[Woche: 34/2024]

Zukunftsgespräch mit Martin Dulig

Im letzten Zukunftsgespräch im Gemeindeboten vor dem IVG-Bürgerentscheid sprach Wiedemars Bürgermeister Steve Ganzer mit dem sächsischen Wirtschaftsminister. In dem Gespräch geht um Wiedemar als Zukunftsregion, Fachkräfte und moderne Industrie. 

Martin Dulig ist seit 2014 Minister im Sächsischen Staatsministerium für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr und stellvertretender Ministerpräsident. Er setzt sich stark für gesellschaftlichen Zusammenhalt und Dialog ein. Aus diesem Grund ist ihm die Bürgerbeteiligung beim IVG Wiedemar ein besonderes Anliegen.

 

Steve Ganzer: Herr Dulig, vor einem Jahr hat der Ministerpräsident die Gemeinde Wiedemar für ein Bürgergespräch besucht. Dabei ging es vor allem um das geplante Industrievorsorgegebiet. Welche Themen und Anregungen haben Sie in der Staatsregierung mitgenommen?

MARTIN DULIG: Die Berichte und Ergebnisse der Bürgergespräche waren tatsächlich ein häufig besprochenes Thema in der Staatsregierung. Ich habe aufmerksam verfolgt, mit welcher Energie und Motivation mit Vertretern der Staatsregierung vor Ort diskutiert wurde. Viele wichtige Themen und Anregungen konnten nach Dresden mitgenommen werden und haben im Zuge der Befassung im Kabinett eine bedeutende Rolle gespielt. Verkehr, Wohnraum, Umwelt und Fachkräftebedarf sind zentrale Anliegen, die verständlicherweise viele Menschen bewegen. Es ist mir wichtig zu betonen, dass diese Bedenken von uns ernst genommen werden und wir sehr sorgfältig geprüft haben, warum Wiedemar ein geeigneter Standort für moderne Industrie mit überregionaler Bedeutung ist. Die Planungen der Staatsregierung berücksichtigen den Erhalt der ländlichen Identität und zielen darauf ab, eine nachhaltige und zukunftsorientierte Entwicklung zu gewährleisten.

 

Warum ist Wiedemar aus Ihrer Sicht so geeignet? 

MARTIN DULIG: Dafür gibt es viele Gründe: Zuerst einmal ist es die Lage. Wiedemar liegt im Herzen von Europa und ist über die Autobahnen und den Flughafen Leipzig/Halle verkehrlich –sehr gut angeschlossen. Dazu kommt die breite Forschungs- und Wissenschaftslandschaft. Vor allem jedoch hat Wiedemar eine zusammenhängende Fläche in einer Größenordnung, die im internationalen Standortwettbewerb sehr gefragt ist. Darüber verfügen nur noch sehr wenige Regionen in Deutschland. Und es gibt hier ein großes Fachkräftepotenzial.

 

Genau das wird von vielen Bürgerinnen und Bürgern in Wiedemar in Frage gestellt – aktuell herrscht ein großer Fachkräftemangel. 

MARTIN DULIG: Die personellen Herausforderungen gibt es ohne Zweifel – viele Unternehmen erzählen mir davon. Dies ist ein Problem, vor dem wir in ganz Sachsen und in Deutschland stehen. Aber gerade hier im Leipziger Nordraum sehe ich ein starkes Potenzial an neuen Fachkräften. Schauen Sie sich die vielen Hochschulen in der Region an. Hier studieren Zehntausende junge Menschen, von denen sicher viele gern bleiben würden, wenn es entsprechende Arbeitsplätze gäbe. Und die Stadt Leipzig ist zu einem Magnet geworden. Kaum eine Stadt in Deutschland wächst so schnell. Warum? Weil sie nicht nur eine kulturell attraktive und lebenswerte Stadt ist, sondern auch, weil sich hier vor 20 Jahren mit Porsche und BMW zwei starke Industrieunternehmen angesiedelt und gute Arbeitsplätze geschaffen haben. Natürlich müssen wir aber auch für mehr Akzeptanz sorgen, damit mehr Menschen zu uns nach Sachsen kommen, die hier arbeiten und leben wollen – gleich ob aus Bayern, Griechenland oder Vietnam.

 

Viele Menschen in den direkt angrenzenden Ortschaften haben die Sorge, dass mit einer industriellen Ansiedlung mehr Verkehr, Lärm und Gestank in die Gemeinde kommen. 

MARTIN DULIG: Ich verstehe diese Sorgen. Früher war Industrie tatsächlich dreckig und laut. Doch die Zeit der stinkenden, qualmenden Industrieanlagen ist vorbei. Es hat sich viel getan, und es wird sich in Zukunft noch viel mehr tun – durch neue Technologien und klug durchdachte gesetzliche Auflagen, die eine Abwägung der wichtigen Belange im Fokus haben. Wenn Sie vor den hochmodernen Werken von Porsche und BMW stehen, werden Sie kaum etwas hören und riechen. Und wir wollen hier einen Platz schaffen für Unternehmen aus einer Zukunftsbrache. Deren Fabriken haben mit der Industrie von vor 100 Jahren nichts mehr zu tun. 

 

Was genau meinen Sie damit? 

MARTIN DULIG: In Zukunft werden vor allem Unternehmen der Hochtechnologie für gut bezahlte Arbeit sorgen. Mikroelektronik, neue Werkstoffe, Biotechnologie, Medizintechnik, Umwelttechnik oder Robotik – es gibt viele Felder und viele Unternehmen, die in diesen Bereichen stark wachsen und neue Produktionsstandorte in Europa suchen. Genau denen möchten wir die Chance geben, in Sachsen eine Heimat zu finden, um unsere Wirtschaft nachhaltig weiterzuentwickeln.

 

Lässt sich dies nicht auch auf Brachflächen realisieren? Dies fragen sich ebenfalls viele Menschen in Wiedemar.

MARTIN DULIG: Ich verstehe, dass dieser Gedanke naheliegt. Aber in Sachsen gibt es keine zusammenhängenden Brachflächen in dieser Größenordnung und in dieser hervorragenden Lage, wie sie große Unternehmen aus dem Hochtechnologiebereich benötigen. Wir arbeiten aber parallel an der Nutzung von brachliegenden Industrie- und Gewerbegebieten – hierfür gibt es eigene Förder- und Vermarktungsprogramme. 

 

In den letzten Monaten gab es mehrere Ankündigungen für neue Großansiedlungen in der weiteren Region: Intel kommt nach Magdeburg, TSMC nach Dresden. Besteht wirklich so viel Nachfrage von internationalen Großkonzernen? 

MARTIN DULIG: Ja. Wir erleben eine Vielzahl an wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Transformationsprozessen – fragile Lieferketten, internationale Krisen und Auseinandersetzungen, die zunehmende Digitalisierung. Wir haben zu Pandemiezeiten gemerkt, was es etwa bedeutet, von Medikamenten aus Asien abhängig zu sein. Diese Abhängigkeit wollen wir verringern – auch und vor allem bei Mikrochips, die inzwischen fast in allen technischen Produkten zu finden sind. Wenn wir als Europa nicht wieder in gefährliche Abhängigkeiten von anderen Staaten geraten wollen, müssen wir jetzt aktiv werden. Für mich ist das auch Vorsorge für unsere Kinder und Enkel – denn mit zukunftsorientierten Unternehmen sichern wir unsere lange sächsische Industrietradition und den Wohlstand, den wir uns in den vergangenen 30 Jahren aufgebaut haben.

 

Was können wir als Gemeinde vom Freistaat Sachsen erwarten, sollte das Industrievorsorgegebiet bei den Bürgerinnen und Bürgern von Wiedemar Zustimmung erhalten? 

MARTIN DULIG: Gut bezahlte Arbeitsplätze verhindern Abwanderung und sorgen dafür, dass die Menschen hierbleiben und hier Familien gründen. Aus unseren Erfahrungen mit anderen Ansiedlungsprojekten wissen wir sehr genau, an welchen Stellschrauben wir drehen müssen, damit die Entwicklung einer Gemeinde mit den neuen Anforderungen Schritt hält. Mit verschiedenen Vereinbarungen haben wir bereits erste Punkte benannt, bei denen wir die Gemeinde Wiedemar unterstützen werden – beim Ausbau von Kindertagesstätten und Schulen beispielsweise, aber auch in den Bereichen Verkehr, erneuerbaren Energien und Ausgleichmaßnahmen werden wir Wiedemar an der Seite stehen. Ergänzend zu bisherigen Unterstützungen hat das Kabinett erst kürzlich beschlossen, dass die Erschließungsplanungen für die Wasserver- und Abwasserentsorgung – wenn es dann soweit ist – finanziert werden können. Das ist eine Gemeinschaftsaufgabe, bei der alle an einem Strang ziehen werden und bei der es auch immer Raum für Austausch und Diskussion geben wird. Der Bürgerdialog war mir bei diesem Projekt von Anfang an äußerst wichtig. Es wird hier nichts über die Köpfe der Bürgerinnen und Bürger hinweg entschieden. Im vergangenen Jahr hatten wir zahlreiche Informations- und Dialogveranstaltungen, die sehr viele Perspektiven in die Diskussion gebracht haben. Das war ein sehr wertvoller Prozess.

 

Am 1. September findet nun der Bürgerentscheid zum IVG statt. Was möchten Sie den Menschen von Wiedemar mitgeben? 

MARTIN DULIG: Schauen Sie optimistisch in die Zukunft! Gemeinsam können wir den anstehenden Wandel in unserem Land jetzt so verträglich und vorausschauend wie möglich gestalten. Wiedemar wird durch eine Zustimmung profitieren und sich zukunftssicher aufstellen können. Nutzen Sie also Ihr Mitbestimmungsrecht beim Bürgerentscheid. Ich bin sicher, dass uns das gemeinsam gelingt. Wir haben in Sachsen in den vergangenen Jahrzehnten so viel erreicht. Wir gehen mit neuen Herausforderungen routinierter und verantwortungsvoller um als andere Regionen in Deutschland. Wir sollten uns das immer wieder vor Augen führen und selbstbewusst Neues wagen. 

 

Vielen Dank für das Interview, Herr Dulig. 

 

Dieses Zukunftsgespräch ist der August-Ausgabe vom Gemeindebote Wiedemar entnommen. Die gesamte Ausgabe finden Sie als PDF-Dokument auf der Internet-Seite der Gemeinde Wiedemar.